Jagd im Olivenhain

Der Autor:

Michael Koller, geboren am 14. März 1972, lebt in Hoheneich bei Gmünd im Waldviertel. Nach Abschluss der Handelsakademie war er in unterschiedlichen Berufszweigen tätig und lernte so den Facettenreichtum des Lebens bestens kennen. Seine Leidenschaft war und ist das Schreiben. Zeitungsartikel, Kurzgeschichten, Gedichte, Romane und Internetblogs umreißen das Repertoire des Enfant Terribles der Waldviertler Schreibzunft. Nach dem Debütroman "Fallstricke" und dem Thriller "Clara" etabliert sich Michael Koller mit "Jagd im Olivenhain" als Autor niveauvoller Spannungsliteratur. Schön und grob. Harsch und liebevoll. Kaum alltäglich. Damit sind die Leitmaximen von Michael Kollers Schaffen treffend umschrieben.

Kurzbeschreibung:

Michael Berger und seine Freundin Karla sind ein ungleiches Paar. Er ein rastloser Zyniker, getrieben von den eigenen Versäumnissen im Leben. Oft in seiner ureigenen Melancholie gefangen. Sie eine junge, lebensbejahende, aufstrebende Frau. Ein wahrer Sonnenschein in Bergers Leben, den er aber nicht so recht an sein Herz herankommen lässt. Zu tief sitzen die Enttäuschungen der Vergangenheit. Bekannte vermitteln den beiden ein Ferienhaus in einem beinahe noch unberührten Teil der italienischen Toskana. Dort lernt der Hauptprotagonist der Geschichte Karla wahrhaftig zu lieben. Zumindest lässt er diese Gefühle erstmals zu. Doch schon bald fällt ein Schatten auf dieses Idyll in den Olivenhainen. Die ortsansässigen Familienclans der Aniellis und der Rossatos projizieren nach und nach eine tragische Geschichte, die sich in den Nachkriegsjahren ereignete, auf die beiden Feriengäste. Diese stellen, neugierig geworden ob der subtilen Bedrohungen seitens der Einheimischen Nachforschungen an, stoßen dabei auf ein dunkles Geheimnis, dass auch Michaels eigene Vergangenheit nicht unberührt lässt und werden dadurch immer tiefer in einen Strudel aus Misstrauen, Hass und falsch verstandener Ehre hineingezogen. Bis es schließlich zur Eskalation der Ereignisse kommt.

Einschätzungung:

Der Roman, der einen weiten Spannungsbogen aufbaut, sich zugleich aber auch als Drama versteht, zeichnet in zwei Kapiteln einen Umriss verschiedenster Weltanschauungen, die erst einmal aufeinander geprallt wie in einem Pulverfass explodieren. Das erste Kapitel skizziert in zwei Erzählsträngen die Gegenwart mit all ihren für die Geschichte relevanten Entwicklungen und gibt parallel dazu einen Rückblick auf das Leben des Michael Berger. Kapitel zwei befasst sich einerseits mit der Jagd nach den beiden Urlaubern, führt den Leser aber auch jenen archaischen Strukturen zu, die das Handeln der Dorfbewohner überhaupt erst begreiflich machen. 

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LESEPROBE


Kapitel I:
Gegenwart und Vergangenheit
1
Perlen vor die Säue. Das war ein durchaus treffender Vergleich. Ja, Perlen vor die Säue. Genauso oder zumindest so ähnlich fühlte ich mich, als ich die Tür zu meiner Kanzlei in der Kaserne am Truppenübungsplatz von Allentah aufschloss, diese weit offen stehen ließ und das schwarze Barett in die rechte Seitentasche meiner Uniformhose steckte. Seit ich zurückdenken konnte, hatte ich nichts mehr anderes gemacht, als Perlen vor die Säue zu werfen. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und klappte die mitgebrachte Tageszeitung vor mir auf. Draußen schrie der Charge vom Tag zum Morgenappell. Ich blickte auf meine verchromte Armbanduhr und begann die Lektüre zu überfliegen. Die Welt hatte sich wieder 24 Stunden lang weitergedreht. Ohne mein Zutun. Und die Nachrichten waren die Gleichen wie immer. Wenn man sich auf irgendetwas in diesem Leben verlassen konnte dann war es die Tatsache, dass die Nachrichten stets die Gleichen waren. Nicht im Wortlaut. Nicht im Kern der Ereignisse. Und doch glichen sie sich wie eineiige Zwillinge. Denn sie hatten einen unumstößlichen Konsens. Sie waren schlecht. Was sich nicht unbedingt auf ihren Inhalt bezog. Sie waren schlecht, weil sie von der Gier getrieben waren, sensationell zu sein. Obgleich sie diesem Anspruch selten bis nie gerecht wurden. Der Spieß übernahm am Appellplatz das Kommando und meldete dem Oberleutnant die Batterie zum Tagesbefehl angetreten. Ich sah meine Vorgesetzten im Geiste vor mir. Der Spieß in lascher, völlig gleichgültiger Haltung. Und der Oberleutnant strebsam bemüht, diesen Affront zu übersehen. Nachdem ihnen mitgeteilt wurde, was sie für diesen Tag zu tun oder zu lassen hatten, trampelte eine Horde Rekruten zurück ins Gebäude und zerstörte endgültig den Frieden, den ich an diesem Morgen gesucht hatte. Der Spieß blickte mich auf dem Weg zurück in sein Büro verächtlich an. Einige junge Unteroffiziere schlenderten sich laut unterhaltend an meiner offenen Tür vorbei, ohne mich zu beachten und schließlich trat der unvermeidliche Oberleutnant an den Absatz.
„Berger!“, schalt er wenig überzeugend. „Wieder einmal nicht bei der Befehlsausgabe! Es ist an der Zeit Sie zu disziplinieren, Stabswachtmeister!“ Ja, es war an der Zeit. Und doch tat er es nie. Und er wusste auch genau, warum nicht. Ich blätterte gelangweilt um, ohne mich in Anbetracht seines Ranges zu erheben und las verdrossen den nächsten Artikel, der sich einmal mehr mit der grassierenden Überfremdung in diesem Lande befaßte.
„Hatte noch unten in der Waffenkammer zu tun und kam erst wieder herauf, als der Morgenbefehl schon im vollen Gange war.“ Damit speiste ich ihn regelmäßig ab, wenn ich eine der lästigen Pflichten schwänzte, die es hier zuhauf gab. Er schüttelte betrübt den Kopf und entfernte sich. Soviel konnte ich aus den Augenwinkeln erkennen. Ich hatte den Kommandanten meiner Batterie einmal aus einer sehr mißlichen Lage gerettet und nutzte das seither gebührend aus. Nachdem die Zeitung den letzten Funken an Interesse verglimmt hatte, erhob ich mich und begab mich nun tatsächlich in die Waffenkammer. Dazu stieg ich die mit Granit ausgelegten Treppen am Ende des langen Batteriekorridors hinab. Vorbei an mit scheußlicher brauner Farbe getünchten Wänden, die mich stets an gerade ausgeschiedene Fäkalien erinnerte. Warum ich Soldat geworden war, wusste ich selbst nicht mehr. Obwohl ich mit meinen 40 Jahren noch den Verstand hatte, mich daran erinnern zu können. Vielleicht hatte ich es einfach verdrängt. Weggesperrt wie alles andere, was in meinem Leben von Bedeutung war. Oder noch von Bedeutung werden konnte. Ich klimperte mit meinem großen Schlüsselbund und nahm die Ehrenbezeugung meines Gehilfen, der bereits auf mich wartete, schweigend zur Kenntnis. Ich schloß die vergitterte Tür auf, überwand eine weitere, schwere Stahltür und stand wieder dort, wo ich einen Gutteil meines Lebens fristete. In der Abgeschiedenheit von vor Tod strotzenden Waffen. Mit einem Wink erinnerte ich den Wehrmann an seine täglichen Pflichten, die hauptsächlich in Reinigungsarbeiten bestanden, und widmete mich meinerseits dem Papierkrieg. Was dem einen lästig war, stellte für mich die einzig wahre Befriedigung dar. Wenn es überhaupt noch etwas gab, was mich begeistern konnte, dann waren es Tabellen. Listen, zusammenhängende Zahlen, Statistiken. Darin ging ich auf. Und ich wusste auch warum. Weil mich diese trockene, gefühllose Materie beruhigte. Mich vor dem schützte, was sich da draußen Tag für Tag abspielte. Ich liebte Zahlen mehr als Menschen, weil ich sie beherrschen konnte. Mit ihnen jonglierte. Sie in Reih und Glied versetzte. Ohne Widerspruch. Ohne Komplikationen. Ohne Gefühle, ohne Tränen, ohne Bedürfnisse. Zahlen waren pflegeleicht. Wie eine Katze, die man ans Kistchen gewöhnt hatte. Während mich der blitzblanke Stahl der aufgereihten, in offene Regale verbrachten Sturm- und Maschinengewehre anblinzelte, hielt ich kurz inne. Es war acht Uhr. Karla sperrte vermutlich gerade die Boutique auf, in der sie arbeitete. Karla war meine Freundin. Warum, wusste ich selbst nicht. Sie war bildhübsch, acht Jahre jünger als ich. Lebensfroh, ehrgeizig. Fast resignierend schüttelte ich den Kopf. Ja, was wollte eine solche Frau von mir? Schon seit wir uns vor zwei Jahren kennenlernten kreiste diese Frage wie ein auf Aas wartender Geier über meinem Kopf. Und genauso lange blieb mir dieser Kadaverfresser die Antwort auch schuldig. Ich fühlte mich durchsichtig. Wie ein Schatten. Nicht wahrgenommen. Ich fühlte mich fremd, ausgestoßen. Und doch sehnte sich dieses Prachtweib nach meinen Lenden. Meinen Stößen. Meinem Sarkasmus. Meiner tiefschwarzen Melancholie. Perlen vor die Säue. Womöglich würde auch sie über kurz oder lang zu diesem Schluß gelangen. Aber ich würde darüber nicht in Agonie verfallen. Höchstens in eine kurze Wallung von Selbstmitleid. Denn ich liebte sie nicht. Aber begehrte doch. Und wurde begehrt, was mich am allermeisten verwirrte. War unsere Existenz nicht eine sinnlose Traurigkeit, die spätestens mit dem Tode offenbar wurde? Dann, wenn wir wieder alle zum Nichts wurden. Egal ob Kaiser, König, Bettler, Hure, Oberleutnant oder Stabswachtmeister. Vom Moment unserer Zeugung an starben wir. Jede Minute ein Stück. Und dieses lange Sterben nannten wir beschönigend Leben. In einem puren Anfall an Sentimentalität. Ich wusste, wie sehr mich all diese Gedanken zermürbten. Mich von einer profanen Welt fernhielten, in der ich vielleicht nicht Weißheit, aber doch Glück erfahren konnte. Und doch war es gerade das, was mich letztlich abhielt. Weil ich die Weißheit über das Glück stellte. Eine Weißheit, die ich anstrebte und doch so wenig von ihr mitbekommen hatte. Eine Weißheit, die mit den großen Denkern früherer Zeit untergegangen schien und sich nur noch, falls überhaupt, in der vernichtenden Technik offenbarte. Ich klappte das dicke Journal, das Schießbuch zu und erhob mich. Die erste Pause war erst für neun Uhr vorgesehen. Aber wer zum Teufel war ich? Ich schlug fast demonstrativ mit meiner Faust auf den Tisch, scheuchte damit unvermittelt meinen an absolute Ruhe gewöhnten Gehilfen auf und begab mich schnurstracks in die Messe. Also in jene Räumlichkeiten, wo einer Person meines Ranges beinahe rund um die Uhr, aber zumindest bis 22 Uhr, ein Getränk welchen Ursprunges auch immer gereicht wurde. Und ein derartiges verlangte ich auch. Einen Saft, der meine Erkenntnis überwand. Meine Erkenntnis, dass es mit Karla bald vorbei sein würde. So, wie mit den anderen vor ihr auch. Woran ich mich eher undurchsichtig erinnern mochte. Bloß an Claudia, die in ihrer Herzlichkeit so weit gegangen war, selbst mein stählernes Herz zu erweichen. Claudia. Ja, sie hatte ich geliebt. Aber sie war gegangen. So wie ich es erwartet hatte. So wie jede vernünftige Frau gegangen wäre, die einmal meinen Atem einsog. In der Unteroffiziersmesse angelangt bestellte ich und im Nu glitt das servierte, eiskalte Bier über meine Kehle. Gelangweilt an den Tresen gelehnt ließ ich mir von der Ordonanz Feuer geben, sog den bissigen Rauch in mich auf und betrachtete die Kulisse, die sich mir bot. Schon am frühen Vormittag waren einige Unteroffiziere sichtlich angetrunken. So wie jeden Tag. Wie ein unablässiges Ritual der Destruktion, das sich fest in ihre Seelen eingebrannt hatte. Anwesenheitsdienst nannte man das. Verrichtet von Leuten, die für nichts mehr zu gebrauchen waren. Und doch aufgrund ihres Dienstvertrages Anrecht auf Bezahlung, Urlaub, Krankenversicherung und Pension hatten. Schon hier sah man, dass das System nicht funktionieren konnte. Jenes System, dass uns katalogisierte, einordnete und letztlich ablegte. Unser aller Fleisch und Blut zwischen Flügelordner presste. Bis wir als vertrocknete Leichen in den Staub der Geschichte übergingen. Jenseits all dessen, was wir einst geleistet oder dargestellt hatten. Die Sinnlosigkeit jenes Unterfangens, was wir Leben bezeichneten, übermannte mich einmal mehr. Brachte mich der Melancholie ganz nahe. Tausende Gedanken durchpflügten in diesem Moment gleichzeitig mein Gehirn. Es gab keinen Ausweg. Außer der unausweichlichen Flucht in die Vergangenheit. Die alles noch viel schlimmer machte.
Rückblende 1:
Die ersten Erinnerungen an mein irdisches Dasein sind äußerst schwammig. Ein Tischbein, ein karierter PVC-Belag, ein altes Sofa, eine schäbige Büroeinrichtung. Ein etwas muffiger Geruch. Und eine böse Vorahnung. Aber keine Menschen. Überhaupt bin ich außerstande Jenen zu bezeichnen, an den ich mich als Ersten entsinne. Was aber auch keine Rolle spielt. Es ist zu lange vergangen. Zu lange bereits ohne jegliche Bedeutung. Ich kam in einen Kindergarten, der von Ordensschwestern geleitet wurde. Schwester Angelina sehe ich lächelnd vor mir. Dieses herablassende, stigmatisierende Lächeln, das sie mir entgegenbrachte. Dieses Lächeln, das mich entwertete, mir die Würde nahm. Mich mit Minderwert übergoß. Diese Frau sah etwas in mir, was ihr nicht gefiel. Das sie für unumkehrbar hielt. Und in ihrer gespielten Freundlichkeit meißelte sie mir das mitten ins Gesicht. Sie belächelte meine Zeichnungen, meine musikalischen Versuche, alles, was ich tat. Vielleicht ist sie es, die meine erste menschliche Erinnerung darstellt. Sie und ihre Ablehnung gegen mich. Gegen ein Kind von drei Jahren. Ansonsten herrscht Leere in meinem Gedächtnis über diese Zeit. Nur noch Kleiderhaken in der Kindergartengarderobe. Eine Waage mit unterschiedlichen Gewichten. Ein gebundenes Papierherz mit meinem Bild darin. Ein schöner Sommertag auf einer Wiese und mein kleines Händchen als Gipsabdruck, verziert mit blauer Farbe. Ja, und ein bärtiger Nikolaus, der in helles, fast weißes Licht getaucht ist. Umringt von Kindern in einer schmalen Küche. Und das kleinste Geschenk für mich.
2
Ich saß mit Karla am Balkon ihrer Wohnung in Mürren und besah sie mir, während ich mit etwas Rotwein meine Lippen benetzte. Ihr langes, kastanienbraunes Haar wallte durch die leichte Brise, die an uns vorüberzog. Ihre azurblauen Augen konzentriert auf das Smartphone gerichtet, in das sie gerade irgendeine Nachricht tippte. Mit einem leicht süffisanten Lächeln auf ihren rosa Lippen. Sie führte also wieder etwas im Schilde. Ich hatte mich längst mit ihren Alleingängen abgefunden. Mit ihren Freunden und Bekannten, von denen ich genauso wenig hielt wie von einem Darmverschluß. Wenn sie mir verkündet hätte, das alles aus und vorbei wäre, hätte ich meinen Wein ausgetrunken, mich etwas zur Seite gedreht und die sich langsam senkende Abendsonne genossen. Es hatte keinen Sinn, sich an andere Menschen zu klammern. Ans vermeintliche Glück. An ein Leben in vollkommener Harmonie. Wir waren uns zu fremd, zu unterschiedlich. Und zogen uns doch in einer gewissen Weise an. Ich nahm jetzt einen etwas kräftigeren Schluck und überlegte, was wohl Karla über unsere Beziehung dachte. Sie hatte nie davon gesprochen. Nie von der Zukunft. Nie von ewiger Liebe, wofür ich ihr sehr dankbar war. Sie hatte kantige Backenknochen, die ihrem Gesicht nicht nur Schönheit, sondern auch Charakter verliehen. Und genau das war es auch, was mich zu ihr hinzog. Sie war keine gackernde Henne, die glucksend und geifernd ihre eigene Dummheit zur Schau stellte. Sie war klug, zielstrebig und wenig sentimental. Was mich von Beginn an zu der Überzeugung brachte, dass ich nur eine Station in ihrem Leben darstellen würde. Aber genau diese Perspektivlosigkeit war es, die mich immer wieder für sie vereinnahmte. Diese Unverbindlichkeit, die ich empfand. Der Klang ihrer Stimme scheuchte mich abrupt aus diesen Gedanken.
„Jetzt weiß ich, wohin wir heuer in den Urlaub fahren!“, verkündete sie mit fester Stimme und hielt mir den Bildschirm ihres Telefons entgegen. Ich beugte mich wenig begeistert nach vor und besah mir das Foto, das darauf zu sehen war. Ein altes, aber sichtlich renoviertes Backsteinhaus irgendwo im Süden. Terrakotta wohin man blickte.
„Schönes Haus“, brummte ich Böses ahnend. Karla sah mir lächelnd ins Gesicht. Sie wusste nur zu gut, wie sehr mir unser letzter Urlaub noch in Erinnerung war. Und die Begleitung in Form von zwei weiteren Pärchen, von der ich erst am Abreisetag in Kenntnis gesetzt wurde.
„Keine Angst, Brummbär!“, umgarnte sie mich. „Es sind bloß zwei Betten vorhanden. Tom und Lisa sind gerade dort. Sie reisen heute ab und der Vermieter hat noch niemanden, der es übernimmt. Erst im August ist die Hütte dann ausgebucht. Lisa hat mir noch weitere Fotos geschickt. Es ist herrlich dort. Olivenhaine, Obstbäume, Kräutergärten. Und rundherum nicht eine Seele, die einen stören könnte. Ein echtes Idyll. Genau nach deinem Geschmack.“ Jetzt ging ihr Lächeln in ein fast provokantes Grinsen über. Ich nahm das Handy an mich und blätterte die Bilder durch. Ja, wirklich sehr nett. Was mich daran irritierte war etwas ganz anderes. Ich sprach Karla direkt darauf an.
„Wie kommt es, dass du dich für eine solch abgelegene Urlaubsdestination begeisterst? Da scheint weit und breit nichts zu sein.“ Bevor ich weiterreden konnte unterbrach sie mich.
„Ja, der nächste Ort liegt im Tal. Etwa zehn Kilometer entfernt.“ Sie wurde nun sichtlich ernster. „Schau her. Ich bin nicht bescheuert. Ich weiß, dass dich meine Freunde nerven. Mein ganzer Lebensstil. Was zu einem Gutteil daran liegt, das du eben keine Freude am Dasein aufbringst. Du bist ein Einsiedler. Ein Pessimist. Und es gibt nicht wenige, wie du dir sicher denken kannst, die sich ernsthaft fragen, was ich mit dir eigentlich will. Aber mich interessiert das nicht. Weil ich mehr in dir sehe, als du selbst. Nenn mich verrückt. Aber genau das gefällt mir an dir. Weil du mir nicht gefallen willst. Weil du dir selbst nicht gefällst. Und so ein Trip in die Einöde ist doch genau das, was einige Fragen zwischen uns beantworten kann.“ Ich nickte leicht, richtete meinen Blick auf einen Weinfleck am Balkontisch und dachte kurz über das nach, was sie gesagt hatte. Es war nicht die Analyse, die mich verblüffte. Auch nicht ihre Offenheit. Es war das Eingeständnis, dass sie mich keineswegs abgeschrieben hatte. Mich nicht als bloßen Zeitvertreib sah. Irgendwie war es beschämend für mich. Nicht rührend. Denn dazu fehlte mir die Eitelkeit. Ob sie diese Worte auch ehrlich meinte, stand freilich auf einem anderen Blatt Papier. Die Absichten der Menschen waren oft so verschlungen wie die Wege, die sie gingen. Oder wollte ich es mir nur nicht eingestehen, mehr für sie zu empfinden als ich selbst bereit war zuzugeben?
„Nun denn“, sagte ich nach einigem Zögern. Die Sache war beschlossen. So wie Karla alles beschloss, was uns beide betraf. Indem sie mir den Spiegel vorhielt. Je länger ich es überdachte desto mehr kam ich zu der Erkenntnis, dass ich dieser Frau nicht gewachsen war. Ich, der größte verkannte Denker seiner Zeit. Sie wickelte mich genauso ein wie die alten Hutblumen, die in ihrem Laden überteuerte Kleider kauften. Manipulation war ein todsicheres Mittel, legal an den Geldbeutel anderer zu gelangen. Manipulation und Überzeugungskraft. Wieviel Wahrheit dahinter steckte, wusste man nie. Und wenn man es erfuhr, war es schon zu spät.
Rückblende 2:
Mit der Erstkommunion kam ich der Gemeinschaft der heiligen katholischen Kirche einen Schritt näher. Ich trug einen dunkelblauen, samtenen Anzug und eine Fliege in gleicher Farbe und Stoff. Dass der Leib Christi lediglich eine endlos an der Zunge klebende Oblate war, stellte sicherlich eine Enttäuschung dar. Wohl auch für Schwester Angelina, die ein letztes Mal missbilligend auf mich herab lächelte, ehe sie meinem Gesichtsfeld für immer entschwand. Die Zeit verging, ohne an mir haften zu bleiben. Kindermaskenbälle als Cowboy und Musketier. Ich mit meiner Schultüte am Hinterhof des Möbelgeschäftes meiner Eltern. Die Mutter einer Schulfreundin samt Fleischerei sehe ich plötzlich wieder vor mir. Freundlich mit uns Kindern lustige Spiele spielend. Freundlich auch zu mir. Alles was Flügel hat fliegt. Dann meine Lehrerin in der Volksschule. Eine nette Frau, die mich mochte. Nach den Schulstunden drillte mich meine Mutter. Lesen, schreiben, rechnen. Schließlich hatte Schwester Angelina immer wieder angedeutet, ich sei etwas zurückgeblieben. Mutter mochte sie auch nicht. Und jetzt will sie es ihr zeigen. Durch mich. Mein Sohn ist nicht dumm. Das trieb sie an. Und auch mich. Wir werden es dieser Nonne schon beweisen. Dann wurde es Winter. Ich nutzte jeden Hügel in Alt-Mürren, einem kleinen Dorf im Waldviertel, das unmittelbar an die Stadt Mürren angrenzte und rutschte mit meinen neuen Skiern daran herunter. Stundenlang. Bis ich meine Füße nicht mehr spürte. Das heiße Wasser, in das sie schließlich gestellt wurden, vergaß ich mein Leben lang nicht. Spüre es selbst heute noch. Nach beinahe 35 Jahren. Nur die Freundschaften nicht mehr. Weggefegt vom Besen der Zeit. Die Freundschaften, die es unter Kindern eben gab. Weder tief noch innig. Aber stets präsent. Ohne Lüge, ohne Blendwerk.
3
Nachdem ich mich von Karla verabschiedet hatte, steuerte ich die nächstgelegene Kneipe an. Sie wusste, dass ich mich nun sinnlos betrinken würde. So, wie sie alles zu wissen schien. Diese wunderschöne Modeverkäuferin, mit deren makellosen Körper ich mich gerade verbunden hatte. Deren Atem ich noch immer spürte. Ihren Geruch, ihre Präsenz. Ihr Feuer, das vor Leben schrie. Sie hatte mich aufgefordert dazubleiben. Aber ich hatte abgelehnt. Und nicht wegen des Alkohols, der mir nun in Aussicht stand. Ich wusste, dass ich mich ihrer entziehen musste, um sie weiter zu begehren. Und um weiter von ihr begehrt zu werden. Hunderte von Männern hatten sich schon vor ihre Füße geworfen. Darüber spottete sie ständig. Nur ich hatte sie mit Mißachtung gestraft. Einer von Tausenden in dieser elenden Stadt. Und so kamen wir zusammen. Ich stieß die Tür zur Kneipe auf und begab mich an einen freien Platz am Tresen. Wer um diese Zeit noch hier war, hatte mit dem Leben abgeschlossen. Oder zumindest versäumt davon Kenntnis zu erlangen. Der Wirt, ein aufgedunsener, eingebildeter Kerl in meinem Alter stellte die unvermeidbare Frage. Und ich gab die unvermeidliche Antwort, während ich den kalten Gerstensaft in Gedanken bereits auf meinem Gaumen spürte. Erst jetzt blickte ich mich im Raum um und machte die üblichen Verdächtigen ausfindig. Mit einem Nicken bedankte ich mich für das vor mir gestellte Bier, hob das Glas, prostete einem der Anwesenden formhalber zu und machte einen mächtigen Schluck. Es tat unendlich gut alleine zu trinken. Es setzte den eingesperrten Geist frei. Die an die Knechtschaft gewöhnten Gedanken. Ich entzündete eine Zigarette, sog den Qualm ein und fühlte mich für einen kurzen Moment unendlich frei. Alle Last flog ab. Karla war weg, mein Beruf war weg. Mein Leben war weg. Nur mein Körper hielt noch stand. Bemächtigte sich des Alkohols, der nun in Strömen floß. Es war kurz nach zehn. Die Jukebox dröhnte ohne Unterlaß. Ich nahm mein Glas und zog mich an einen der Tische zurück. Während ich in mein Glas starrte, dachte ich an das Leben eines Ludwig van Beethoven, eines James Cook oder eines Vincent Van Gogh. Jahrelang hatte ich mich dem Studium großer Geister hingegeben. Doch mit welchem Erfolg? Ich trat noch auf der gleichen Stelle herum, fand keinen festen Halt und zermürbte mich immer weiter. Ich hatte gar nichts verstanden. Und gar nichts gelernt. Die größten Köpfe unserer Zivilisation waren am Boden gelegen. Oft ein ganzes Leben lang. Ohne ihr Genie für ein Stück Brot zu verkaufen. Was mir fehlte war Demut. Der Blick in den wahren Abgrund. Den würde mir auch unbotmäßiges Trinken nicht bescheren. Dessen konnte man sicher sein. Und doch musste ich weitermachen. Wie jedes andere Individuum in seinem Trott. In seiner ewigen Ausweglosigkeit. Wir waren dazu verdammt. Solange, bis uns der Tod abberief. Und uns zurückholte. Wohin auch immer. Ich dachte wieder über Karla nach. Sie hatte angeboten, eine gemeinsame Wohnung zu nehmen. Nicht zum ersten Mal. Und ich hatte nicht zum ersten Mal ausweichend geantwortet. Warum? Weil ich nie wieder verletzt werden wollte. Nicht von Gefühlen zu einer Fatahmorgana. Zu einer Nebelschwade. Zu einem Nichts. Liebe war Tod. So wie es das Leben auch war. Genau das empfand ich, als ich mein fünftes Bier in mich hineinkippte. Und es erschreckte mich nicht im Geringsten. Ich war Soldat. Verachtet von meinen Kameraden, die mich aufgrund meiner Schulbildung für hochnäsig hielten. Verachtet von meinen Vorgesetzten, die mich wegen meiner Weigerung Offizier zu werden mieden. Und verachtet von meinen Untergebenen, die mich für einen Versager hielten. Soviel Verachtung und soviel Selbstmitleid war zuviel für einen Mann. Also trank ich um Beides zu vergessen. Und Karla, die wie eine Sphinx über meinem Haupt thronte.
Rückblende 3:
Über meine Großeltern weiß ich sehr wenig. Meine Oma starb, als ich noch kaum etwas registrierte. Sie war wohl ein Matriarchat. Zu meiner Mutter erbarmungslos, zu ihren Kindern bevormundend und zu ihrem Mann ein Tyrann. Doch dies zu beurteilen obliegt mir nicht. Mein Großvater lebte am Ende seiner Tage im Hause meiner Eltern. Ich erinnere mich noch gut an seinen großen Fernseher, der endlos brauchte, bis sich ein Bild ergab. Ich verfolgte darauf die Spiele der Eishockey-Weltmeisterschaften, die schon damals übertragen wurden. Ansonsten kann ich mich seiner kaum entsinnen. Auch nicht an das Begräbnis, welchem ich fernbleiben musste. Woraufhin mich der Junge des Totengräbers, mit dem ich gemeinsam die Schule besuchte, mit Schmähungen bedachte. In die Zeit meiner ersten Schuljahre fiel auch die Begeisterung zum aktiven Sport. So trat ich sowohl dem Tennis- wie auch dem Fußballverein bei. Eine andere Bequemlichkeit ergab sich mit dem Tod meines Opas. Mir wurden die Räumlichkeiten überantwortet, in die er sich vor seiner Angetrauten geflüchtet hatte und ich erhielt so mein erstes eigenes Zimmer. An Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern, sehr wohl aber noch an einen alten, knorrigen Schrank, in dem ich all meine Habe stets griffbereit sortierte. Ich traf mich oft mit einem Freund aus dem Nachbardorf, mit dem ich auch das Kino besuchte. Bud Spencer und Terence Hill waren unsere ebenso lustigen wie schlagkräftigen Helden. Rückblickend war dies wohl die schönste Zeit meines Lebens. Ich hatte zwei, drei gute Spielkameraden und konnte stundenlang in der freien Natur verbringen. Keine Autos, kein Haß, keine Gewalt. Was sich ändern sollte, als ich die Volksschule verließ und in die Höhen des Gymnasiums aufstieg.
4
Ich erwachte mit einem gehörigen Brummschädel, nahm einen tüchtigen Schluck aus der bereitstehenden Wasserflasche und stand schließlich auf. Eine kalte Dusche brachte mich wieder zur Besinnung. Fragmentarisch kehrten die Erinnerungen zurück. Mehr war auch nicht nötig. Die Dinge änderten sich ohnehin nie. Genausowenig wie die Abläufe, in die ich mich festgefahren hatte. Es machte also wenig Sinn danach zu forschen. Weitermachen war die Devise. Immerzu. Bis zum bitteren Ende. Bis der Krug endgültig auseinanderbrach. Der Krug, der tagtäglich zum Brunnen getragen wurde. Ich schaltete die Kaffeemaschine ein und machte die Stereoanlage leise an. Mozart ließ mich für einen kurzen Moment alles vergessen, was mich umgab. Noch so ein Genie, noch so Geist, den ich niemals begreifen würde. Dessen unendliches Gefühl für den perfekten Ausdruck aller Empfindungen, die wir uns wünschten oder die wir erdulden mussten. Ich legte mich auf das Sofa im kleinen Wohnzimmer. Meine Wohnung war ebenso überschaubar wie spartanisch. Was durchaus praktisch war. Besen und Scheuerlappen mussten so nicht über Gebühr in Anspruch genommen werden. Ich hatte meine Bücher, meine Musik und meine Einsamkeit. Karla machte sich laufend über meine Garderobe lustig und beschenkte mich regelmäßig mit irgendeinem Kleidungsstück von dem sie annahm, es würde mir stehen. Was ich nicht zu beurteilen vermochte. Mode war ihr Metier. Methodik war meines. Ich beherbergte in meinem Drei-Zimmer-Apartment ein nicht unbeträchtliches Archiv an Landkarten aus aller Welt. Wohl geordnet und katalogisiert. Für Karla war diese Leidenschaft spießig. Sinnlos. Sie sah darin etwas, was jemanden unmöglich Freude bereiten konnte. Doch da irrte sie, meine kluge, wunderschöne Freundin. Aus dem Grund, weil sie von sich automatisch auf alle anderen schloss. Das war ihr Kardinalfehler. Sie differenzierte nicht. Sie sah schwarz und daher war es auch schwarz. Obwohl es tatsächlich dunkelgrau war. Karla hatte ein Gespür für Menschen. Wusste ihre Leidenschaften und Empfindlichkeiten für sich zu nutzen. Ohne diese auch zu verstehen. Ohne dabei im vielzitierten Elfenbeinturm zu sitzen, in dem ich Platz genommen hatte. Und über meinen Karten gebeugt die Welt zerschnitt. In Täler des Jammers. In finstere Schluchten. In bodenlose Untiefen. Was mir fehlte hatte sie im Übermaß. Und umgekehrt. Und an die Mär, dass sich Gegensätze anzogen glaubte ich nicht. Ich schloss meine Augen und die Musik bahnte sich ihren Weg durch die Dunkelheit. Es war Samstagvormittag. Ganz Mürren, ob nun in der überladenen Alt- oder in der ärmlicheren Neustadt erlag dem Rausch des Konsums. Verstopfte Straßen, belagerte Supermärkte, überfüllte Läden. Karla hatte gerade ihre helle Freude. Es machte ihr Spaß von Leuten umgeben zu sein. Mit ihnen zu schwimmen. Ihre Kreditkarten lächelnd entgegenzunehmen. Sie würde bald ihr eigenes Geschäft besitzen. Daran setzte sie all ihre Hoffnungen. All ihre Energie. Und sie würde Erfolg damit haben. Weil jedermann sie mochte. Es gab solche Menschen, die einem mit ihrer positiven Aura fast erschlugen. Und es gab welche, die überhaupt nicht wahrgenommen wurden, denen der Registrier-Code fehlte. Wie eine abgelaufene Ware, die niemand mehr wollte. Selbst geschenkt nicht. Ich bewegte mich in Riesenschritten darauf zu.
Rückblende 4:
Meine Eltern besaßen ein großes, ziemlich verschachteltes Haus. Einen beträchtlichen Teil der Räumlichkeiten nahm die Tischlerwerkstatt meines Vaters ein. Im Untergeschoß befanden sich zahlreiche Werkbänke und eine Vielzahl an Maschinen, die er zur Ausübung seines Gewerbes benötigte. Der Wohnbereich in Teilen des Erd- und Obergeschoßes war mit Arbeiten aus dem häuslichen Betrieb ausgestattet, der Rest befand sich in einer Mischung aus Rohbau und Abstellräumen, oft nur über Leitern oder schmale Stiegen erreichbar. Ein wahrer Abenteuerspielplatz für einen heranwachsenden Knaben. Abseits von diesem Idyll vernahm ich immer öfters Streit und laute Stimmen. Vor allem abends, wenn Vater von seinen Wirtshaustouren heimkehrte. Ich verkroch mich dann immer in meinem Zimmer und verschwand unter der Bettdecke, meinem letzten Refugium vor einer verschwommenen Realität. Meine Mutter riß mich des Öfteren mitten in der Nacht hervor, packte mich am Arm und rannte mit mir aus dem Haus. Wir besaßen im angrenzenden Mürren ein großes Möbelgeschäft, in dem wir dann Unterschlupf fanden. Auf zwei löchrigen Campingliegen im Büro hinter den Ausstellungsflächen. Dort erzählte mir meine tapfer gegen die Tränen ankämpfende Mutter dann immer Episoden aus der Familiengeschichte und ihrem Leben. Noch heute verspüre ich die Trauer, die ich schon damals dabei empfand. Die Trauer und die Wut. Und den festen Vorsatz einmal anders zu sein. Es waren diese Erlebnisse, die mich zurückweichen ließen, die mich mit Scheu erfüllten. Ich begann mich langsam abzukapseln. Gegenüber meiner Familie, meinen Freunden, den Leuten rings um mich herum. Mein Lachen verschwand bei diesen regelmäßigen Fluchten hinaus in die Dunkelheit. Damals verstand ich all das nicht, was passierte. Erst, als es bereits zu spät war. Für mich und meine Eltern. Meine Mutter fuhr mit mir im Reisebus zweimal in den Süden. Einmal war es am Vorabend wieder soweit gewesen. Mit Sack und Pack. Und einem kleinen Koffer voll Süßigkeiten ganz für mich alleine. Es war schön am Meer zu sein. Die Wellen rauschen zu hören. Weit weg von Schreien und dumpfen Geräuschen im Hintergrund, die meine Liebe erlöschen ließen. Meine Liebe zu allem Lebendigen. Als wir zurückkehrten war ich braungebrannt und bestaunte meine Haut in der Badewanne liegend. In derselben Wanne, in der mein Vater oft schnarchend darniederlag. In dieser Zeit gab es auch manchmal Zusammenkünfte der ganzen Familie. Also Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, meine Eltern und meine drei Geschwister. Wir Kinder bekamen einen eigenen Tisch zugewiesen und nachdem das Essen aufgetragen war, entspann sich schnell ein Spiel. Kaiser, König, Edelmann. Bürger, Bauer, Bettelmann. Diese Titel wurden in der Reihenfolge vergeben, wer zuerst seinen Teller leergegessen hatte. So sehr ich mich auch mühte, der Spott des Bettelmanns war nicht abzuwenden gewesen. Das Lachen. Die langen Nasen. An diesen Tagen verachtete ich jeden, der im Raum war. Weil sie mich verachteten. Das Wort Familie bekam für mich eine ganz neue Bedeutung. Die Geborgenheit war endgültig verschwunden. Der Vorhang schloß sich. Und ich wandelte durch ein Reich der Dunkelheit, das mich erkalten ließ.
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Einen Vorzug, den Karla mit großem Wohlwollen betrachtete, besaß ich dann doch. Ich war ein passabler Koch, den auch aufwendige Rezeptkreationen nicht schreckten. Da sie aber auf leichte, linienbewusste Kost Wert legte, musste ich mein Repertoire nur sehr selten ausschöpfen. Ein knackiger, raffiniert angerichteter Salat, etwas mediterran mariniertes Hühnerfleisch oder eine kalorienarme Pasta mit Gemüse reichten meist aus. Ich gab ihr wonach sie begehrte und bediente mich nach dem Mahl meist noch am Kühlschrank mit weniger gesunder Nahrung. Kein Mann hätte jemals für sie gekocht, vergaß sie dabei niemals zu erwähnen. Ja, eine Frau war manchmal erstaunlich einfach zu befriedigen. Nach dem gemeinsamen Mittagessen bei mir verabredeten wir uns für den Abend in einer kleinen Cocktailbar in der Altstadt. Den Nachmittag verbrachten wir unterschiedlich. So wie jeden Samstag. Karla paukte Rechnungswesen, Marketing und ich traf mich mit meinen Freunden zum Fußball. Alle zwei Wochen spielte das Mürrener Team auf heimischer Anlage. Zu diesem Zweck kamen wir bereits Stunden zuvor in einem schäbigen Cafe zusammen und brachten uns in Stimmung. Als ich eintrat, war die Bande bereits tüchtig am Trinken. Falls man das noch so bezeichnen konnte. Wir begrüßten uns kurz mit Handschlag und ich widmete mich sofort einer bereitliegenden Zeitung mit Wettquoten. Tennis und Fußball waren das Hauptgeschäft des Buchmachers vor Ort. Ich überflog das Angebot und suchte mir dann vier Spiele aus der hiesigen Bundesliga aus, die in Kürze via Konferenzschaltung übertragen wurden. Die Vorberichte liefen bereits auf den im Lokal angebrachten Bildschirmen. Ich holte mir eine Flasche Bier, placierte meine Wetten und begab mich zu den anderen, die sich bei einer Partie Billard die Zeit bis zum Anpfiff vertrieben. Die Begegnungen, auf die wir wetteten, waren nur der Vorlauf. Einstimmung auf das, was später noch kommen sollte. Es war wie ein Ritual. Wir fieberten am Fernseher mit, fluchten, zerrissen unsere Wettscheine und lachten kurz darauf über unser eigenes Unvermögen. Oder über das Unvermögen der Teams, auf die wir gesetzt hatten. Wir waren gut zehn Leute. Mal mehr, mal weniger. Der harte Kern, zu dem auch ich gehörte, war immer gleich. Wir tranken, sprachen über die beschissene Woche, die hinter uns lag, sprachen über den mehr oder minder großen Ärger mit unseren Frauen und Freundinnen und waren im Geist bereits wo anders. Langsam verflog mein Kater vom Vortag und ich taute bei den ersten angestimmten Schlachtgesängen zunehmend auf. Der Wirt hatte es längst aufgegeben uns in Zaum zu halten. Die Zeche, die wir hier ließen war nicht unbeträchtlich und die Aussicht, eine aufs Maul zu bekommen, durchaus wahrscheinlich. Etwa dreißig Minuten vor Spielbeginn machten wir uns auf den Weg. Einen großen Vorteil hatte mein Beruf als Soldat zweifelsohne. Ich konnte mich, während andere entweder vor ihren Schreibtischen hockten oder sich körperlich schinden mussten, in guter Kondition halten. Täglicher Morgensport, Kraftkammer, Hindernisbahn, regelmäßige Gepäckmärsche. Das Angebot war vielfältig und ich nutzte es auch. Irgendwie musste ich meinen teils übermäßigen Alkohol- und Nikotingenuß wieder kompensieren. Und das Militär bezahlte mich auch noch dafür. An diesen Samstagen kam mir das sehr zu pass. Denn ein Besuch des städtischen Fußballplatzes beschränkte sich keineswegs auf den Konsum alkoholischer Getränke und die Beobachtung eines Spieles zweier Amateurmannschaften. Nachdem wir die Eintrittskarten gelöst hatten, begaben wir uns zu unseren angestammten Plätzen. Vorbei an gegnerischen Fans, die bereits Position bezogen hatten. Wir bedachten sie mit Schmährufen und sie erwiderten diese. Das Spiel hatte begonnen. Bevor überhaupt noch ein Akteur das Feld betrat. Ich ballte meine Fäuste in den Hosentaschen und wartete darauf, dass sich meine Aggressionen entluden. Verbal, körperlich. Ich spürte das Tier in mir. Das Tier, das niemals ganz gebändigt werden konnte. Auch nicht von einer Krankheit, die sich Zivilisation nannte. Meine Freunde, von denen ich manche mein ganzes Leben lang kannte, spürten das auch. Und lebten es so wie ich aus. Gewalt war der Menschen ureigenster Instinkt. Gewalt, die in den Köpfen entsprang. Gewalt und Haß. Wir hatten längst unsere eigene Natur überwunden. Hatten uns längst selbst entartet. Im virtuellen Raum, in der Agglomeration. Im ganzen urbanen Wahnsinn, der uns alles vernichten ließ, was vor uns stand. Während die Knöchel meiner Finger weiß wurden starrte ich ins Leere. Die Unwirklichkeit hatte mich fester in ihrem Würgegriff denn je. Die Unwirklichkeit, derer ich mich nicht entledigen konnte. In keinem Atemzug meines Lebens. Die Unwirklichkeit stand direkt neben mir und grinste mich an, während ich einmal mehr alles vergaß.
Rückblende 5:
Auf meinem Weg ins Alleinsein durchlief ich viele Phasen. Oft mit kaum merklichen Schattierungen. Der Betrieb meines Vaters umfaßte auch ein Gelände am anderen Ende von Alt-Mürren. Früher waren dort Baumstämme in Bretter geschnitten und gelagert worden. Nachdem sich das nicht mehr rentierte, wurde das Holz direkt in die Werkstätte geliefert. Ich verbrachte viel Zeit auf diesem Areal, dass langsam von der Natur verschluckt wurde. Sommer wie Winter. Ich bastelte mir Wurfgeräte, die ich bei Leichtathletikübertragungen im TV gesehen hatte und veranstaltete Zehnkämpfe wie mein großes Vorbild, der dunkelhäutige Brite Daley Thompson. Manchmal kamen andere Kinder vorbei, die mitmachen wollten. Oder wir spielten Fußball mit einem etwas unwuchten Leder. Doch die Tür in mir blieb geschlossen. So sehr ich mich auch tief in mir drinnen nach Gesellschaft sehnte. Ich spürte sukzessiv, dass etwas falsch lief. Eines Tages ging ich zu einem Nachbarn, der junge Kätzchen hatte und bat um eines. Ich hatte den drängenden Wunsch, es zu töten. Selbst noch, als es vor mich hingehalten wurde. Ich nahm die Wäscheleine, die ich mitgebracht hatte und wollte das arme Tier damit in ihr Verderben führen. Gottlob überlegte es sich der Bauer in Sorge darüber, was meine Eltern wohl dazu sagen würden, noch einmal anders und ich zog mit leeren Händen wieder ab. Ob ich wirklich dazu fähig gewesen wäre, dieses pechschwarze Wesen zu töten, ist heute schwer zu beurteilen. Ich bin jedenfalls sehr froh darüber, es niemals erfahren zu haben. Noch heute erschrecke ich beim Gedanken daran. Nachdem diese Gelüste ebenso schnell verschwunden, wie sie gekommen waren, zog ich mich noch weiter in meinen Kokon zurück. Ich verbrachte einen ganzen Sommer lang in meinem Zimmer bei zugezogenen Gardinen. Nur das Kinderprogramm im Fernsehen hielt mich mit der Außenwelt in Verbindung. Und meine gelegentlichen Märsche in den Supermarkt, wo ich mir von meinem Taschengeld Limonade kaufte. Es war der trostloseste Sommer, den ich jemals verlebte. Meine Schwester hatte eine Freundin zu Gast, die mich einmal sehen wollte. Sie kamen in mein Zimmer und starrten mich an. Das sagte mir alles. Ich fühlte mich danach ausgestoßener denn je. Alles in mir wehrte sich gegen mich selbst. Aber auch die Tränen brachten mich nicht weiter. Ich merkte sehr rasch, dass die Menschen mich nicht sonderlich mochten. Und ich war zu jung um damit umzugehen. Also suchte ich mein Heil in jedem Strohhalm, den ich greifen konnte. Ich fand Anschluß bei ein paar Jungs, mit denen ich beim Verein Fußball spielte. Und machte Bekanntschaft mit dem Genuß von Filterzigaretten, die wir in einer kleinen Höhle nahe einem idyllisch durchs steinige Tal ziehenden Baches rauchten. Ich hatte zum ersten Mal etwas ausdrücklich Verbotenes getan. Etwas, was sonst nur Erwachsenen vorbehalten blieb. Es fühlte sich großartig an. Obgleich mir kotzübel war. Ich hatte mich außerhalb der Schranken begeben. Das machte mich bereit für mehr. Für viel mehr. Die nächste Kreuzung war passiert. Der nächste Weg eingeschlagen. So viele weitere würden noch kommen. So viele Entscheidungen. Hunderte, Tausende. Und doch hatte ich mich jetzt bereits verlaufen. Bei einer der ersten Gabelungen.

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